Novo Hamburgo – Fachwerkhäuser, neugotische Kathedralen und Shoppingzentren säumen die Straßen der brasilianischen Stadt „Novo Hamburgo„. Der Ort gehört noch zur Metropolregion von Porto Alegre im Süden des Landes und zählt 260.000 Einwohner. Früher boomte die Stadt mit ihrer Schuhindustrie. Menschen zogen vom Land in die Stadt, um Arbeit in der Schuhindustrie zu finden – und wurden aufgrund der desolaten wirtschaftlichen Situation bald wieder arbeitslos. 1968 wurde deshalb die Organisation ABEFI gegründet, die Arbeiterfamilien und vor allem die Kinder unterstützen hilft.
ABEFI steht für „Associação Beneficente Evangélica de Floresta Imperial“: An Wortungetümen nimmt es die brasilianische Sprache mit dem Deutschen locker auf. Die Mitarbeiter verwenden deshalb nur die Abkürzung, wenn sie beschreiben wollen, wie die Organisation Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen hilft.
Das Geld ist knapp für die Sozialarbeit
Geschäftsführer und Pfarrer Carlos Bock empfängt uns in einem abgedunkelten Konferenzraum, spricht einleitende Worte und demonstriert per Power Point seine vielfältige Aufgabenwelt, die Übersetzung leistet Pfarrer Silvio.
Hauptaufgabe der Organisation bilden die Themen Erziehung und Bildung, aber auch Betreuung. Täglich nehmen rund 1.500 Kinder und Jugendliche, aber auch Erwachsene, das vielfältige Angebot wahr. 50.000 Essen und 4.120 Fläschchen Milch werden monatlich unentgeltlich ausgegeben. Rund 200 Erwachsene nehmen pro Jahr an Weiterbildungs- und Qualifizierungsangeboten teil. Die Escola de Educacāo Infantil da Paz und Açāo Encontro zählen zu den 13 sozialen Einrichtungen der ABEFI, die eine Schule, weitere Kindergärten, ein Kinderheim, ein Internat, eine betreute Wohngemeinschaft für Jugendliche und Betreuung für Obdachlose umfassen. Ein Frauenhaus ist geplant.
Kindergarten für die Ärmsten
Mit diesen Zahlen und Fakten im Kopf besuchen wir die Escola de Educação Infantil da Paz und freuen uns über die vielen fröhlichen Kinder, die hier im Garten spielen. Einen schöneren Kontrast zu Power Point kann es kaum geben. Im großen Saal haben die Kinder kurz zuvor zu Mittag gegessen und ein kleines Fest gefeiert – Süßigkeiten stehen in einer Schüssel herum. „Das gäb’s in Deutschland nicht“, meint noch eine Kollegin mit einem Lächeln auf den Lippen und der Hand schon gefährlich nah der Schüssel.
Da erklärt die Leiterin des Kindergartens Monika Maier rasch, es sei auch hier nur eine Ausnahme wegen des Festes. Ein fast enttäuschtes Aufseufzen geht durch unsere Gruppe, hatten wir uns doch gerade schon an einem Ort fern des deutschen Helikopterelterntums gewähnt und wollten diese zuckersüße Illusion noch einen Moment länger genießen. Doch die Realität holt uns sehr schnell auf den Boden der Tatsachen zurück.
Regierung droht mit Kürzung der Sozialausgaben
Wir kommen auf die politische Situation in Brasilien zu sprechen. Uns interessiert, wie die Regierung nach der Amtsenthebung der ehemaligen Präsidentin Dilma Rousseff mit Präsident Michel Temer an der Spitze mit Sozialausgaben verfahren wird. Ein Thema, das Monika Maier die Tränen in die Augen treibt. Sie spricht lieber zunächst über den Kindergarten, wie er jetzt ist. Derzeit betreuen die Erzieherinnen ganztags in mehreren Gruppen 145 Kinder zwischen vier Monaten und drei Jahren, vor allem aus sozial schwachen Familien. Dabei ist es ein besonderes Anliegen der Einrichtung, die Eltern in die Arbeit mit einzubeziehen. Bei Auffälligkeiten der Kinder wird das Gespräch gesucht, um Lösungen zu finden. Häufig handelt es sich dabei um häusliche Gewalt. Psychosoziale Hilfe ist ein Angebot, das vermittelt werden kann. Die Erzieherinnen arbeiten mit Jugend- und Gesundheitsamt und Familienberatung zusammen. Es besteht eine Warteliste für die Einrichtung, da nicht alle Kinder aufgenommen werden können.
Das klingt ganz nach einem deutschen Konzept mitten in Brasilien – nur, das Geld ist wesentlich knapper. Wir haken nach: Was bedeutet denn nun der politische Kurswechsel ganz konkret für ihren Kindergarten? Monika Maier antwortet leise: „Wir werden vielleicht nur noch die Hälfte der Kinder betreuen können.“ So fröhlich wir gerade noch durch die Räume der Kindertagesstätte gegangen sind, die Bilder an den Wänden bewundert haben und den Kindern beim Spielen zusehen konnten, so ernst sagen wir Monika Maier auf Wiedersehen und sie antwortet uns auf Deutsch, dass sie sehr gut spricht, so lange sie nicht über zu ernste Dinge reden muss.